Ein Kommentar. Es ist ein Graus, mit welch zweifelhaftem Erfolg sich die Entscheidungen einiger weniger für immer mehr Verzicht einer größeren Masse verantwortlich zeichnen. Das lässt sich derzeit nicht nur in den südlichen Ländern Europas ablesen. Richten wir den Fokus weg von „Bunga, Bunga“ und verengen ihn. Vom Land in die Stadt. Von der Stadt in die Szene. Nehmen wir das Beispiel „Kultur in Münster“. Unbestritten ist, dass nicht nur die Dichte sondern auch der Output der Kultur in der Westfalenmetropole und Studentenstadt Münster eine der höchsten des Landes sind.
Unter Theaterfreunden genießen die städtischen und freien Ensemble der zahlreichen Theater der Stadt einen sehr guten Ruf. Und auch Musikliebhaber erfreuen sich an der Qualität „ihres“ Sinfonieorchesters oder der zahlreichen Bands, die jeweils weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt sind. Ja, es soll in der Studentenstadt sogar kleine Theater-Ensemble geben, die gänzlich ohne städtische Kulturförderung auskommen. Welche Stadt kann das schon von sich behaupten?
Doch wo viel Glanz ist, fallen oft auch Schatten. Und wie in vielen anderen Bereichen stinkt auch hier der Fisch vom Kopf. Die Intendanten der Städtischen Bühnen in Münster, ein Kulturbetrieb übrigens, der im Jahr mit einer Finanzspritze von bis zu 22 Millionen Euro subventioniert wird, ließen es sich nicht nehmen, bekannte deutschsprachige Literaturgrößen nach Münster zu holen. Sie nannten diese Reihe zu Beginn der Spielzeit 2010/2011 stolz „Literaturbegegnungen„. Mit dieser Event-Reihe wurde jedoch keine Event-Agentur beauftragt (die eine vernünftige Kosten-Nutzen-Rechnung aufgestellt hätte), sondern diese honorigen Gäste wollte man lieber selbst nach Münster einladen. Ehre, wem Ehre gebührt! Koste es, was es wolle!
Die Ankündigungen für diese Literaturbegegnungen wurden weit gestreut und fanden sogar im Kulturkalender der ehrwürdigen Frankfurter Allgemeinen Zeitung Beachtung. Eine kulturelle Veranstaltung in Münster, nachzulesen in der FAZ. Chapeau! Ziel erfüllt aber Kasse leer? Für die ganzseitigen Anzeigen, Werbebanner und Programmheftchen wurden selbstredend keine Kosten und Mühen gescheut. Natürlich erhielt ich auf meine Anfrage darüber keine Auskunft. Aber die Kosten dürften sich allein für die Werbung auf etwa 25.000 bis 30.000 Euro belaufen – pro Künstler natürlich.
Während für den ersten „Doyen der deutschen Literatur“ (Zitat: Westfälische Nachrichten), Literaturnobelpreisträger Günter Grass, im November 2010 noch jeder verfügbare Stuhl ins Große Haus geholt werden musste (760 Plätze) und die Gewinn-Verlust-Rechnung damit noch weit weniger verheerend ausfiel (Karte: 25,- Euro), blieben beim zweiten Literaten, Martin Walser, zahlreiche Plätze im Großen Haus unbesetzt. Ein Affront gegen jedes journalistische Feingefühl war es zudem, sowohl letztere als auch die dritte Begegnung mit der Österreicherin Friederike Mayröcker als „gut besucht“ oder „außerordentlich erfolgreich“ zu beschreiben.
Die erste Begegnung mit der inzwischen 87-jährigen Frau Mayröcker musste zu allem Überfluss wegen einer Erkrankung im Juni verschoben werden. Der lange zuvor angekündigte Termin wurde kurzerhand auf Oktober 2011 neu angesetzt. (Bitte summieren Sie jetzt nicht die (doppelten) Kosten für den Werbeaufwand.) Damit bewegten sich die Ausgaben für die Literaturbegegnungen insgesamt sicherlich längst im sechsstelligen Bereich. Nach dem nur mäßigem Kartenverkauf für Frau Mayröcker wurde ihre Verkaufsshow (nichts anderes war die „Begegnung“ mit Herrn Walser) ins Kleine Haus verlegt. An diesem Abend wollten gut 160 Literaturfans die Lyrikerin live erleben. Dazu schrieben die Kollegen, wie zum Beispiel ein Kollege der Westfälischen Nachrichten: „Dem Publikum, das zahlreich ins kleine Haus geströmt ist„. Zur Erinnerung, es waren rund 160!
Frau Mayröcker ließ es sich nicht nehmen, die zahlreichen Gäste, die ins Kleine Haus „geströmt“ waren, erst einmal zehn Minuten warten zu lassen. Dann kam sie an der Hand von Klaus Kastberger, Literaturkritiker und –wissenschaftler an der Universität Wien, Mayröcker-Kenner und Duz-Freund und zusammen sollten sie ein „lockeres Gespräch“ (ähnlich den vorangegangen Literaturbegegnungen) führen und zu guter Letzt die Prosaarbeit „ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk“ vorstellen.
Wer die Büchner-Preisträgerin und ihre Arbeit kennt, der weiß, wie kreativ und vielseitig die Wienerin mit der Sprache umgeht. Doch man sollte auch wissen, dass Frau Mayröcker keinen Mediengesetzen gehorcht und erst recht Live-Auftritte verabscheut. Was die 87-jährige also dazu veranlasst haben könnte, die lange Reise von Wien ausgerechnet nach Münster anzutreten, darüber dürften wohl nur die Verantwortlichen der Städtischen Bühnen in Münster Auskunft geben können. Die „Begegnung“ in Münster ist laut ihrem Verlag (Surhrkamp) übrigens (neben einem Auftritt in Bremen im Januar) der einzige Auftritt im Jahr 2011 von Frau Mayröcker außerhalb Wiens geblieben.
Nach ein paar netten einleitenden Worten von ihrem Freund Kastberger las die „Weltliteratin“ (O-Ton Städt. Bühnen Münster) Mayröcker aus ihrem aktuellen Werk vor. Ihre kurzen Bemerkungen machten deutlich, dass derzeit keine andere lebende Prosaistin das Wittgenstein`sche Diktum „Worüber man nicht sprechen könne, darüber müsse man schweigen“ derart konsequent auslebt wie Friedericke Mayröcker. Nach etwa 20 Minuten verließ sie das erste Mal die Bühne. Nach einer fünf-minütigen Pause erwiderte sie die gewollt provozierenden Fragen ihres (zugegeben unterhaltsamen) Freundes mit kurzen Antworten und einem gequälten Lächeln. Es folgte eine weitere kurze Lesung (siehe Audiostream) und nach 45 Minuten war der Spuk vorbei. (Damit hatte Friederike Mayröcker die Lesestunde von Herrn Walser im Juni um exakt netto 20 Minuten unterboten). Daraufhin bot sich für die verdutzte Anhängerschaft die Gelegenheit einer „Signierstunde“. Und wer noch kein Buch dabei hatte, der konnte sich im reichlich bestückten „Bücher-Buffet“ vor der Tür „bedienen“.
Es ist schade, dass mit derlei grobmotorischem Fingerspitzengefühl und sicherlich großen finanziellen Anreizen deutschsprachige „Doyen“ der Literaturszene nach Münster gelockt wurden. Grass, Walser und Mayröcker „dankten“ den Verantwortlichen mit groß angekündigten Signierstunden und beschämend kurzen Auftritten. Der nicht nur organisatorische sondern auch der finanzielle Aufwand steht hier in keinem adäquaten Verhältnis zum Gewinn. Über diese Ausgaben hätten sich das Sinfonieorchester oder das Theaterensemble sicherlich sehr gefreut. Bleibt zu hoffen, dass der neue Intendant Peters derlei „Ego-Spielereien“ in Zukunft lieber zwei Mal durchkalkuliert. Die sehr kreative (freie) Kulturszene in Münster wird es ihm danken!