„Manche Filme wirken so, als seien sie geradewegs vom Himmel gefallen. Was andere Filme zu beschweren scheint, ist von ihnen abgefallen“.
Diesen wunderbaren Einstieg in eine Rezension wählte (der viel zu früh verstorbene) Michael Althen für seinen sehr lesenswerten Text zu „Los amantes del Circulo Polar“ („Die Liebenden des Polarkreises“) von Julio Medem. Film und Text werden im Oktober vierundzwanzig Jahre alt.
„Andere Gesetze scheinen (in diesen Filmen) zu herrschen,“ so geht es bei Althen weiter „eine andere Luft, ein anderes Licht, so dass man sich fortwährend verwundert die Augen reiben möchte“ (..). Ein Geschenk des Himmels? Gemach. Aber was für Julio Medems „Die Liebenden…“ zutrifft, ja, davon darf sich auch Baltasar Kormákurs „Touch“ einiges anheften. (Und deshalb kann es auch für diese Kritik zu „Touch“ keinen besseren Einstieg geben als die Worte von Michael Althen.) Denn genau wie Medems „Die Liebenden…“ ist auch „Touch“, die Verfilmung des Romans von Olaf Olafsson (hat am Drehbuch mitgeschrieben) ein Glücksfall, ein Geschenk für die Seele. In seinem Umfang riesig in allem (die Handlung erstreckt sich über Jahrzehnte), inklusive zahlreicher Sprachen (Englisch, Japanisch, Isländisch), Kontinente und Kulturen … In die Verfilmung von Kormákur sind Themen wie Erinnerung, Altern, Verlust und Liebe eingewoben aber in einer Sensibilität, die so überaus zart ist wie das Flattern eines Schmetterlingsflügels.
An Islands Westküste
Gleich zu Beginn lernen wir Kristófer kennen. Ein Mann wie ein Bär, wie er da aufrecht steht, mit weißem Bart, in der hinteren Reihe eines Männerchores. Kristófer ist Witwer. Er betreibt ein kleines Restaurant an der Westküste Islands. Wie stark und fit er wirklich ist, das zeigt die Anschlussszene. Besuch beim Hausarzt. Dieser legt ihm nahe, ein MRT machen zu lassen, weil bei seinem Patienten, so notiert er sich, nach und nach die Erinnerungen verblassen. „Vielen Menschen rate ich, die Dinge zu klären, die noch zu klären sind“ gibt ihm der Hausarzt mit auf den Weg. Und weil Romanautor Olafsson seine Geschichte in die Zeit der Corona-Pandemie verlegt hat (was den Regisseur später zu einigen charmanten Regie-Einfällen verleitet), schließt Kristófer sein Restaurant, sortiert seine Dinge und kramt in alten Erinnerungsstücken. Dabei stößt er unter anderen auch auf ein japanisches Gedicht, ein Haiku.
Erster Zeiten- und Szenenwechsel. Die faden Blautöne Islands werden eingetauscht in helle, leuchtende Farben des Londons Mitte/Ende der 60er Jahre. Die so genannten „Swinging Sixties“. Kristófer, jetzt verkörpert von Palmi Kormákur, Sohn des Regisseurs, studiert an der Londoner School of economics. Studenten-Unruhen sollen das „wilde“ Leben in den 60ern skizzieren, ansonsten finden die Rückblenden im Film (anders als im Buch) ausschließlich an nur einem Ort statt.
Londons Swinging Sixties
Kristófer ist ein junger Idealist. Palmi Kormákur spielt ihn mit einer großen Portion skandinavischer Zurückhaltung und Understatement. In seinem Spiel wird schnell deutlich, dass für ihn ein anderes Leben bestimmt ist als eine Karriere in der Wirtschaft. Genau wie einst Otto, Hauptfigur in Julio Medems „Die Liebenden …“, verkörpert von Fele Martinez, ist auch Kristófer ein schüchterner, großgewachsener junger Romantiker, der mit wenigen Worten auskommt. Zusammen mit seiner runden Lesebrille erinnert der isländische Kristófer ein wenig an John Lennon, was Baltasar Kormákur dazu veranlasst, später einen Zeitungsausschnitt von John Lennon und Yoko Ono einzublenden, in dem es um Lennons Aufruf „Make love not war“ geht.
Vom Studium sowie dem strikten Vorgehen gegen die Studierenden der School of economics genervt, reagiert Kristófer auf einem Nachhause-Weg auf ein „Aushilfe gesucht“-Schild eines japanischen Restaurants, indem er sich – zur Verwunderung seiner Kommilitonen – auf den Job als Tellerwäscher bewirbt – und nach einem kurzen Gespräch mit Geschäftsführer Takahashi-san (Masahiro Motoki) am nächsten Tag auch direkt bekommt.
Beim Betreten des Restaurants treffen Kristófers Blicke auf die der jungen Miko, Tochter des Geschäftsführers. Eine flüchtige Begegnung, die aber, so viel ist schnell klar, beider Leben verändern wird. Eine Begegnung, deren Wucht nur das Kino so heraufbeschwören kann, wie es auf der großen Leinwand eben möglich ist, wenn eine Begegnung in die Hände eines/r versierten Regisseur*in mit großem Herzen gelegt wird – wie zum Beispiel in die romantischen Hände Wong Kar-wais (2046), Julio Medems (Die Liebenden…) oder eben Baltasar Kormákurs.
Von der Komödie über das Action-Abenteuer zur Romanze
Verwunderlich ist, dass der Isländer Kormákur bislang eher durch Action-Abenteuer international aufgefallen war als durch die Inszenierung großer Gefühle. In beispielsweise seinem Film „Everest“ (2015) ging es um eine Gruppe Amateure, die begleitet von zwei erfahrenen Bergsteigern (Jason Clarke, Jake Gyllenhaal) den „gefährlichsten Ort der Erde“ erklimmen wollen, sein Abenteuer „Beast“ (2022) bebilderte die afrikanische Jagd auf einen rachsüchtigen Löwen (mit Idris Elba). Beides Hollywood-Auftragsarbeiten. Beide ohne großen Erfolg bei Kritik und Publikum. Aufgefallen war Kormákur im Jahr 2000 mit seiner charmanten Loser-Komödie „101 Reykjavik“ mit Hlynur Björn Hafsteinson als Muttersöhnchen, der sich plötzlich mit der extrovertierten Spanierin Lola (Victoria Abril) als Mitbewohnerin herumschlagen muss.
Ob es die Weisheit und Gelassenheit des Alters ist (Kormákur ist Jahrgang 1966), die Liebe zu seiner Heimat Island oder die Absicht, seinem Sohn Palmi nach einigen Nebenrollen den perfekten Einstieg als Hauptdarsteller zu ermöglichen – suche Dir einen Grund aus – feinfühliger hat schon lange kein Regisseur und auch keine Regisseurin das Aufeinandertreffen zweier Menschen aus unterschiedlichen Kulturen inszeniert als Baltasar, genannt „Balt“, Kormákur die Begegnung zwischen Kristófer und Miko im kleinen Restaurant in London Ende der 60er Jahre.
Das perfekte Duo?
Dass die Chemie zwischen Kristófer und Miko von der ersten Minute auch direkt die Herzen des Publikums entzündet, liegt neben dem großgewachsenen Palmi Kormákur sicherlich auch am japanischen Model Mitsuki Kimura. Sie selbst hatte sich vor ihrer Karriere den Namen „Koki“ gegeben. Bisher ohne Leinwanderfahrung besticht die Japanerin durch eine Souveränität, die beeindruckt. Vielleicht auch, weil dem 2003 in Tokio geborenen Model die schauspielerischen Talente quasi mit in die Wiege gelegt worden sind. Ihr Vater Takuya Kimura ist nicht nur in Japan ein schauspielender und singender Superstar sondern hat u.a. auch in der vom ZDF produzierten Schätzing-Verfilmung „Der Schwarm“ mitgespielt.
„Warum hast Du den Job bei meinem Vater angenommen“ fragt die Restaurant-Tochter Moki irgendwann den verliebten Kristófer. „Weil ich Dich getroffen habe“ wird Kristófer später sagen. Und dass auch diese Romanze, wie alle großen Romanzen der Filmgeschichte, kein glückliches Ende nehmen wird, so viel sei verraten, liegt nicht wie in Medems „Die Liebenden…“ am Umstand, dass beide Liebenden miteinander verwandt sind sondern dass Moki eine Hibakusha ist, eine Überlebende der Atombombe von Hiroshima. Das sind die Steine, die in dieser Romanze von Moki und Kristófer aus dem Weg geräumt werden müssen. Ein nahezu unmögliches Unterfangen. Gut, dass Olafsson in seinem Roman und auch Kormákur in seiner Verfilmung dabei auf jegliche Culture-Clash-Comedy-Elemente verzichtet haben und die Liebe zwischen Miko und Kristófer zunächst einmal für das Publikum gedeihen lassen.
Kristófer zeigt sich als sehr geduldig und ehrgeizig. Er lernt alles über die japanische Küche, säubert bis spät abends das verdreckte Geschirr und studiert neben der Sprache zudem eifrig die Rezepte seines Lehrmeisters. Mit welcher Hingabe er eines morgens seiner Miko ein Frühstück zubereitet und wie zögerlich und verantwortungsbewusst beide ihre Gefühle und Ängste voreinander offenlegen, das ist ein Herz-Erwärmer. Mikos Vater Takahashi-san freundet sich natürlich ebenso schnell mit dem wissbegierigen Skandinavier an wie die restliche Belegschaft des Restaurants – und sicherlich auch die Zuschauerinnen im Kinosaal.
Von der Liebe, die keine sein darf
Umso heftiger bohrt sich dann jedoch die imaginäre Faust in die Magengrube, als Kristófer eines morgens in das Restaurant kommt und sieht, dass das Inventar ausgeräumt wurde und die Familie überstürzt das Land verlassen hat. Keine weitere Nachricht, nur ein letzter Gehaltscheck.
Zweiter Zeitenwechsel. Der Witwer Kristófer, im Alter überzeugend verkörpert von Egill Ólafsson, nicht verwandt mit dem Autor der Geschichte, packt seine Sachen und begibt sich auf die Suche nach Miko. Er versucht nicht, seine Jugend oder gar Jugendliebe zurück zu gewinnen. Er will nur wissen, was aus der Familie, und vor allem, was aus Miko geworden ist. Aus dem romantischen Kammerspiel im Restaurant wird ein Roadmovie. Einzelne, verträumte Rückblicke und -blenden nicht ausgeschlossen. Kormákur inszeniert diese Reise eher als eine Umarmung des Mitgefühls, eine Vergebung, die von Anmut und Glück beseelt ist. Nicht von Trauer.
Auch im Kino wiederholen sich also Geschichten. Es gab mal einen Film, da trafen sich zwei junge Menschen am Polarkreis und verliebten sich ineinander, obwohl sie sich nicht verlieben durften. Er hieß „Los amantes del Circulo Polar“ – „Die Liebenden des Polarkreises“. Und genau wie dieser Film findet auch „Touch“ über 20 Jahre danach ein versöhnliches Ende. Denn die tiefe, ehrliche und respektvolle Liebe, und sei sie nur eine Erinnerung, ist das Schönste, was einem Menschen widerfahren kann.
Quelle Bilder: (oben) Pálmi Kormákur als junger Kristofer und Kōki als junge Miko. (Foto: Lilja Jonsdottir / © 2024 FOCUS FEATURES LLC /FILMFEST MÜNCHEN)
(links) Filmplakat Touch, Universal Pictures Germany