„Spielfilme, die Du in einem Satz zusammenfassen kannst, taugen nichts„. Hat mir mal ein Freund gesagt. In „Burning“ geht es um einen jungen Schriftsteller, um eine Freundin aus Kindertagen und ihren neuen, reichen Freund, also um ein Trio, das immer mal wieder Zeit zusammen verbringt – bis die gemeinsame Freundin plötzlich spurlos verschwindet. Ende der Geschichte. Ende des Films. Der Koreaner Lee Chang-dong verwandelt diese dünne Ménage a trois, basierend auf einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami (japanischer Autor und Nobelpreisträger, bekannt u.a. durch „Naokos Lächeln“), in einen 148-minütigen Thriller. Und dieser zählt für mich zu den besten des Jahres, nicht nur weil er zugleich eine kritische Gegenwartsanalyse der koreanischen Gesellschaft liefert. Aber der Film stellt Fragen: Ist die Story vielleicht doch ZU dünn? Warum wissen wir am Ende so wenig über die Figuren? Nach zweieinhalb Stunden Spielzeit? Und was ist mit dem abrupten Ende? Das sind nur die ersten Fragen, die nach der Betrachtung von „Burning“ auftauchen. Und es werden nicht die letzten bleiben.
Ein Mensch auf der Suche nach Antworten ist auch die Hauptfigur: Jong-su. Als beiläufig plaudernder Ich-Erzähler nimmt uns der leicht tumb wirkende Gelegenheitsjobber (Yoo Ah-in) an die Hand – und lässt diese bis zum Ende nicht mehr los. Beim Ausliefern von Firmenkleidung begegnet er seiner Freundin aus Jugendtagen. Hae-mi jobbt offensichtlich als Animateurin und lockt auf der Straße Laufkundschaft für einen Besuch in einen Billigdiscounter an. Sie (Jong-seo Jun) stammt aus derselben Provinz nahe der Grenze zu Nordkorea, lässt aber gleich zu Beginn erkennen, dass sie mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen hat. Zudem ist ihr Hunger auf Erlebnisse und das Leben wesentlich größer als bei unserer Hauptfigur. Letzterer ist vom ersten Moment an fasziniert von seiner ehemaligen, wohl mittlerweile erschlankten Jugendfreundin, was auch Hae-mi nicht verborgen bleibt und in einer gemeinsamen Nacht in ihrem kleinen Dachgeschoss-Apartment endet.
Der andere Freund
Während Jong-su nun an die große Liebe glaubt, hat Hae-mi ihren verliebten Jugendfreund am nächsten Morgen bereits eiskalt zum Housesitter umfunktionalisiert. Sie behauptet, sie hätte ein wenig Geld gespart, um nun endlich ihre lang erträumte Reise nach Afrika antreten zu können, wo „die Buschmänner so großartig tanzen“. Jong-su solle in der Wohnung bleiben und eine Katze füttern, von der keineswegs gewiss ist, dass es sie gibt. Weil Jong-su keiner ist, der nach so einer Kaltschnäutzigkeit das Weite sucht, hat er sich längst einwickeln lassen. Natürlich ist er bereit, auf die lebenshungrige Hae-mi zu warten; und er ist auch bereit, sie nach wenigen Wochen vom Flughafen abzuholen. Jong-su lässt sich zudem nichts anmerken, als Hae-mi ihren „neuen“ Freund präsentiert, den reichen und gut aussehenden Lebenskünstler Ben (Steven Yeun, der Glenn aus „The Walking Dead“).
Die nur schwer nachvollziehbare Lakonie, mit der die Hauptfigur die Lust und die Launen seiner vermeintlichen Freundin erträgt, ist zudem auch die Taktgeberin in Lee Chang-dongs Erzählrhythmus der Geschichte. Von Hae-mi wird man nicht mehr viel erfahren, denn nach einigen Treffen zu dritt ist sie plötzlich spurlos verschwunden. In gefühlt unzähligen Momenten begibt sich Jong-su fortan immer wieder auf die Suche, fast detektivisch versucht er mit seinen begrenzten Mitteln dem Verschwinden seiner Liebe auf den Grund zu gehen. Natürlich meist erfolglos. In mehrfach sich wiederholenden Momenten folgt er dem reichen Ben in seinem Porsche, was mit einem schrottreifen Kleinlastwagen wenig Aussicht auf Erfolg hat. Weil uns der Autor und Regisseur Lee Chang-dong keine weiteren Hinweise zum Verschwinden gibt, bleiben seine Schilderungen vage – dies aber auf eine seltsam spannende Weise. Welcher Figur kann man trauen? Wer gibt seine ehrlichen Gefühle für wen preis? Der Zuschauer sieht nur das, was die Hauptfigur sieht. Und das ist ohne Phantasie nicht sehr viel. Wir rätseln also über das, was Jong-su nicht versteht. Und wir rätseln mit ihm.
Mit einem Tanz zu Miles Davis
Es sind die kleinen Momente, die „Burning“ so interessant machen und die Lee Chang-dong anhand einer geschickten Montage am dünnen Story-Gerüst anbringt. Es sind Momente, die jeder große Film so dringend nötig hat und die noch lange nachklingen sollen. So überraschen Ben und Hae-mi ihren vermeintlichen Freund Jong-su irgendwann Zuhause auf dem Land. Ben hat Gras mitgebracht, die Abendsonne gibt dem Event die passende Stimmung. Jong-su hatte auf die Schnelle für ein wenig Ordnung gesorgt und eine Sitzgelegenheit auf der Terrasse errichtet. Miles Davis erklingt aus dem Auto und Hae-mi beginnt zu tanzen. Verführerisch, selbstvergessen. In den Augen der Männer spiegelt sich eine Mischung aus Sehnsucht, Resignation und Trauer wieder. Eine deutliche Reminiszenz an Truffauts „Jules und Jim“, in dem es eine ähnliche Szene gibt, die bei weitem jedoch nicht die Tiefe besitzt, weil in Lee Chang-dongs „Burning“ beide Kontrahenten sehr viel unterschiedlicher sind.
Nicht nur in dieser Szene spiegelt sich das Bild einer Gesellschaft, die mit charakterlicher und sozialer Korruption zu kämpfen hat. Vielleicht auch deshalb transferierte Lee Chang-dong den Schauplatz der Kurzgeschichte nach Korea, weil besonders im gespaltenen Land alte Traditionen des Zusammenlebens, Respekt, Anerkennung und Toleranz an vielen Orten schmerzlich vermisst werden und der Einsamkeit des modernen Hyperkapitalismus weichen mussten. „Burning“ ist ein Film, der viele Fragen offen lässt. Offene Stellen, die auch als eine Orientierungslosigkeit einer Gesellschaft interpretiert werden können, in der die gesellschaftliche Schere immer tiefere Gräben nach sich zieht. Ein grandioser, ein intensiver Film, der völlig zurecht den Kritikerpreis bei den Filmfestspielen in Cannes 2018 gewonnen hat. Nicht verpassen!