Es ist angerichtet. Das nächste Jahr steht bereits in den Startlöchern. Und wie gewohnt wird an dieser Stelle am Ende eines Jahres abgerechnet. Was war gut? Was war weniger gut… im Kino? Es war EIN GUTES Jahr für die Lichtspielhäuser in Deutschland. Trotz Fußball-WM und Rekord-Sommer. Zumindest was die AngebotsVIELFALT anging. Und ich bin mir sicher, dass auch die Umsatzzahlen aus dem letzten Jahr (Umsatz 373 Mio. bei 42,1 Mio. Kinobesucher*innen) übertrumpft werden können. Auch Dank der großen Blockbuster „Phantastische Tierwesen“, „Thor: Love and Thunder“, Top Gun: Maverick“ und natürlich „Avatar 2“.
Nach MEINEN eher mageren (coronabedingten) Kinojahren 2020 +2021 haben sich meine 113 Kinobesuche in 2022 dann doch wieder etwas „normal“ angefühlt. Mehr als 2 neue Kinofilme pro Woche. Dem Angebot sei Dank. Und was waren meine besten Filme? Mit der Endabrechnung wurde deutlich, dass es schwieriger war als im Vorjahr, „nur“ zehn gute Filme zusammen zu stellen.
Auch bei über 100 Kinofilmen gab es in 2022 bei mir keinen Festivalbesuch. Zudem sind mir Netflix-Filme wie „Im Westen nichts Neues“, „Die Schwimmerinnen“ und „Guillermo Del Toros Pinocchio“ (Netflix/24 Bilder) schlichtweg „durchgerutscht“. Ebenso fehlen die Empfehlungen der Kolleg*innen wie „Axiom„, „Das Glücksrad“, „Don´t worry darling“ oder „She said“. Bleibt zu hoffen, dass das Angebot im nächsten Jahr qualitativ mindestens genauso gut evtl. besser und quantitativ auf ähnlich hohem Niveau bleibt. Und, dass ich einmal mehr das richtige Händchen habe und die richtige Wahl treffe.
Meine Kino Topten 2022
Auch am Ende diesen Jahres möchte ich zunächst auf folgende Sichtungen hinweisen.
Sie sind mir nachhaltig im Gedächtnis geblieben:
10. Dancing Pina (Florian Heinzeh-Ziob)
2022 war auch ein Jahr der Dokumentationen. So viele gute Dokumentationen hatte ich selten in meiner Jahres-Übersicht. So wie zum Beispiel das Projekt von Florian Heinzeh-Ziob: Die langjährige Begleiterin der legendären (2009 verstorbenen) Choreographin Pina Bausch, Jo Ann Endicott, studiert mit einem panafrikanischen Ensemble – und gemeinsam mit Bausch-Ensemble-Mitglied Jorge Puerta Armenta – Pina Bauschs zeitlose Choreographie von „Frühlingsopfer“ (aus dem Jahr 1975) neu ein. Parallel dazu laufen die Vorbereitungen für eine Neu-Inszenierung der 1974er Tanzoper „Iphigenie auf Tauris“, die wie das Projekt im Senegal erstmals einem anderen Ensemble überlassen wurde (2018 dem Ballett der Semperoper Dresden). Beide Inszenierungen sollen 2020 aufgeführt werden – doch dann kam Corona! Die Kunst in der Pandemie, was tun? Eine tolle Dokumentation, die noch immer in Wuppertal im Kino zu sehen ist, mehr darüber beim Verleih mindjazz-pictures.de.
9. Belfast (Kenneth Branagh)
Ja, ich weiß, Kindheitserinnerungen im Kino sind oft schwierig, meist sehr sentimental. Aber nach Alfonso Cuaróns Regie-Oscar für seine Rückschau in s/w namens „Roma“ kann ich mir vorstellen, dass Autor und Regisseur Kenneth Branagh mehr Mut gefasst hatte, auch seine (Belfast-) Kindheitserinnerungen auf die Leinwand zu bringen. Gedreht wurde im September+Oktober 2020 in Belfast selbst, Kinostart in D war im Februar 2022. Und das Ergebnis kann sich mehr als sehen lassen. Nicht nur wegen des herausragenden Hauptdarstellers Jude Hill. Selten hat man über eine Stadt und dessen Geschichte mehr erfahren (dürfen). Mehr (Streaming-)Infos dazu bei Focusfeatures.com.
8. Belleville, Belle et Rebelle (Daniela Abke)
Wieder eine Dokumentation. Daniela Abke (Jahrgang 1968), eine hervorragende Chronistin, stellt nach drei Kurzfilmen ihre erste Dokumentation vor, ein Besuch in dem Pariser Stadtteil Belleville. In ihrem Film portraitiert Daniela Abke sechs außergewöhnliche Bewohner von Belleville, dem Pariser Einwanderer- und Arbeiterviertel. Darunter Stammgäste des VIEUX BELLEVILLE – einem Bistro an der Straße. Es geht um politische Mitbestimmung, Schicksale und Musik. Ein authentischer, sehr lebensbejahender Film. Und wenn am Ende Musiker, Photographen, Wirte und „ganz normale junge Leute“ Serge Gainsbourgs „La Javanaise“ anstimmen, dann wünscht man sich sofort einen Zug herbei, um nach Paris zu fahren und alle Orte aus dieser wunderbaren Dokumentation zu besuchen. Mehr dazu bei coccinelle-films.com.
7. Come on, Come on (Mike Mills)
Von Paris geht es nach New York. Nach so hervorragenden Filmen wie „Beginners“ (2010) und „Jahrhundertfrauen“ (2016) überzeugt Mike Mills, der Meister des autofiktionalen US-Independent-Kinos, einmal mehr mit einem berührenden Porträt; hier mit seinem „C´mon, C´mon“ (Originaltitel) über einen Radiomoderator, der auf ein Kind aufpassen soll. Angeführt von einem herausragenden Joaquin Phoenix als Onkel begegnen sich hier Onkel und Neffe (Woody Norman) auf Augenhöhe, mit all ihren jeweiligen Problemen. Beide schenken sich nichts, erleben einen intensiven Trip kreuz und quer durch die USA und lernen sich dabei kennen, schätzen und letztendlich auch lieben. Ein sehr berührender Streifzug durch die USA in s/w.
6. Igor Levit – No Fear (Regina Schilling)
Mit ihren Dokumentationen „Titos Brille“ (2014) oder „Kuhlenkampffs Schuhe“ (2018) hatte die Filmemacherin Regina Schilling Entzückung bei Publikum und Kritik hervorgerufen. Die Beethoven-Sonaten des Pianisten Igor Levit sollen sie aus einer Schaffenskrise gerettet haben, wie sie im Nachklang ihres Levit-Porträts zugibt. Zwei Jahre begleitet sie den weltweit erfolgreichen Pianisten, der in Russland auf die Welt kam, mit zahlreichen Kameraleuten (auch im Corona-Lockdown). Dabei entstand ein berührendes, mitreißendes, nie aufdringliches Porträt eines sympathischen Ausnahmetalents in dem Levits Bedürfnis nach politischem Engagement genauso zur Sprache kommt wie sein Scheitern, sein Zaudern und seine körperliche Wandlung. Klasse!
5. Der schlimmste Mensch der Welt (Joachim Trier)
Als nach „Am Anfang“ (2006) und „Oslo, 31. August“ (2011) schnell klar war, dass der norwegische Regisseur Joachim Trier (Jahrgang 1974) völlig zu Recht zu den großen europäischen Talenten seines Fachs zählt, fehlte nur noch eine sommerleichte romantische Komödie in seinem Oeuvre. „Verdens verste menneske“ (Originaltitel) ist der dritte Titel seiner Oslo-Trilogie, es ist eine Komödie und im Zentrum steht erstmals in seinen Filmen eine Frau. Julie (Renate Reinsve, Preis als beste Darstellerin in Cannes 2021) ist eine junge Frau, die nirgendwo, bei keinem Job, keinem Mann, so richtig ankommt. Und Joachim Trier begleitet sie beim Älterwerden, bei einem Seitensprung, auf Parties und vielem mehr. Ein Film so leicht wie ein Sommer-Nachmittagsspaziergang, der wie so viele große Werke von allem und nichts erzählt, nie aufgeregt, sondern so zart, heiter und lebensbejahend wie große Filme eben sein können.
4. Everything, everywhere all at once (Dan Kwan, Daniel Scheinert)
Große Überraschungen sind ausgeblieben in diesem Kinojahr 2022. Abgesehen von vielleicht James Cameron (in Ansätzen) hatte in diesem Jahr niemand das Kino neu erfunden. Und was ist mit Dan Kwan und Daniel Scheinert? Das befreundete US-amerikanische Regie-Duo stellte nach seinem Überraschungserfolg mit „Swiss Army Man“ auf dem South by Southwest Filmfestival Ende März 2022 die Geschichte um eine chinesischstämmige US-Familie vor, die einen Waschsalon besitzt und von der Steuerprüfung genervt wird. Es folgen eine wirre Reise durch mehrere Universen, angeführt von einer großartigen Michelle Yeoh – und der Film startete einen weltweiten Siegeszug über alle Kontinente. Plausibel ist an diesem Film ist gar nichts, gibt man sich seinem Irrwitz dennoch hin, wird man belohnt mit einem fiebrigen Soundtrack und surreal überbordenden Bilderwelten.
3. Licorice Pizza (Paul Thomas Anderson)
Autor und Regisseur Paul Thomas Anderson (Magnolia, There will be blood) erzählt die Geschichte von Alana (Alana Haim) und Gary (Cooper Hoffman), ihrem Aufeinandertreffen, ihrer Freundschaft mit einigen Aufs und Abs und nimmt den Zuschauer dabei mit ins kalifornische Valley des Jahres 1973. Musik, Setting, Kamera und Darsteller, allen voran Cooper Hoffman, Sohn des verstorbenen Philip Seymour-Hoffman, sind erwartungsgemäß herausragend. Ein Meisterregisseur kann auch eine semi-autobiographische Kurzgeschichte authentisch und mitreißend inszenieren. Ein Meisterwerk.
2. Nope (Jordan Peele)
Spätestens seit seinem Drehbuch-Oscar für „Get out“ (2017) war klar, dass der Autor und Regisseur Jordan Peele nicht nur intelligente Fernsehunterhaltung („Key and Peele“, The Last O.G.) sondern auch intelligentes und packendes Kino schreiben und inszenieren kann. Mit „Nope“ (not only people on earth) wagt der afroamerikanische Alleskönner sich ins Science Fiction Genre. Als Otis Junior Haywood (Daniel Kaluuya) eines morgens seinen Vater durch einen seltsamen Schlüsselregen verliert, muss er die finanziell angeschlagene, abseits gelegene Pferderanch – der ganze Stolz seines Vaters – alleine führen. Ihm zur Seite steht seine Schwester Emmy (Keke Palmer), eine Sänger- und Schauspielerin. Die beiden nehmen immer mehr Anzeichen von unerklärlichen Phänomenen war und versuchen, daraus Kapital zu schlagen. Aber das wollen andere auch… Eine Überraschung in diesem Kinojahr, spannend, unterhaltsam und gut.
1. The Menu (Mark Mylod)
Nach einigen Jahren auf dem Fernseh-Regiestuhl sowie als ausführender Produzent u.a. für „The Affair“, „Succession“ oder „Game of Thrones“ in denen er das lustvolle Intrigenspiel bis zur Perfektion erlernen konnte, spießt er in „The Menu“ die Welt der Gourmets und das sie umgebende Konsumspektakel auf. Aus den Augen einer wunderbar unbeteiligten Anya Taylor-Joy und kunstvoll garniert mit Blut und fiesen Pointen serviert Mylod ein wendungsreiches Revenge-Kino-Menü, in dem Form und Inhalt bestens harmonieren. Ein Augen- und Gaumenschmaus.
Das waren meine wenigen Highlights aus dem Kinojahr 2022. Wer die besten Filme des Jahres 2021 noch einmal nachlesen möchte, für den habe ich hier den Link dazu. Wir sprechen uns an dieser Stelle hoffentlich bald wieder. Und Kommentare zu meiner Liste gerne am Ende des Textes in die Kommentarspalte. Auf ein wunderbares Kinojahr 2023!