Die Filme von Sebastian Schipper sind nicht nur Zeitdokumente über Personen und ihre Geschichten. Vor allem „Roads“ ist – wie bereits sein One-Take-Drama „Victoria“ oder wie auch sein Debüt „Absolute Giganten“ – ein Film über ein Gefühl. Ein Lebensgefühl. Ein Lebensgefühl, das dort entsteht, wo die Sehnsüchte größer sind als die Möglichkeiten. Und weil das Kino der perfekte Ort für Zeitdokumente und Sehnsüchte ist, war es nur eine Frage der Zeit, wann Sebastian Schipper im Hinblick auf die aktuelle EU-Politik die Themen Migration und junge Sehnsüchte in einem Werk zusammenbringt. „Roads“ ist zudem – wie fast alle Filme des Hannoveraner Filmemachers – ein „Buddy-Movie“. Auch hier stehen junge Erwachsene im Fokus, auch hier sind sie auf der Suche: nach ihrer eigenen Identität, nach etwas Spaß sowie auch nach einem Menschen, der einen versteht. Mit „Roads“ bringt Schipper die Themen, von denen sein Werk schon immer handelt, in Bewegung und schickt sie diesmal in die Ferne.
Auf die Spielstätten Hamburg („Absolute Giganten“) und Berlin („Victoria“) folgt Marokko. Der westafrikanische Staat am Atlantischen Ozean ist nicht nur bekannt für seine atemberaubenden Städte und Märkte in Marrakesch, Rabat oder Casablanca. Das Land ist ein Nadelöhr für die weltweiten Migrationsströme. Doch nichts davon sieht man bei Sebastian Schipper. Sein Film (in einer der sonnenreichsten Staaten der Erde) startet in der Nacht. Der Zuschauer lernt die Hauptfigur Gyllen (Fion Whitehead, „Dunkirk“) kennen. Gyllen ist gerade 18 geworden. Von seinem Stiefvater und seiner Mutter genervt hatte er sich in der Nacht seines Geburtstages dazu entschlossen, mit dem Wohnmobil, mit dem seine Familie von England bis nach Marokko gefahren war, abzuhauen. Sein Ziel: sein leiblicher Vater in Frankreich. Als es Probleme mit dem Camper gibt, kommt ihm aus der Dunkelheit der aus dem Kongo geflohene William (Stéphane Bak) zur Hilfe.
Coming-of-Age und Roadmovie
Gyllen und William frotzeln zunächst etwas herum, es geht um Fußball, sie sind etwa gleich alt aber im Wesen doch gänzlich unterschiedlich. William hatte seine Heimat verlassen, um seinen nach Frankreich emigrierten älteren Bruder zu suchen. Der Kontakt zu ihm war bereits seit einigen Monaten abgebrochen. Aus diesem Zusammentreffen entspinnt Schipper, der zusammen mit Oliver Ziegenbalg das Drehbuch schrieb, eine spannende Mischung aus Coming-of-Age- und Roadmovie. Die Kamera von Matteo Cocco weicht den beiden Protagonisten in den nächsten 90 Minuten kaum mehr von der Seite. Gemeinsam reist das Team von Marokko über Spanien und Frankreich bis nach Calais.
Wie in vielen Roadmovies üblich, werden auf der inneren und äußeren Reise eine ganze Menge Dinge passieren. In einem ähnlich rastlosen Film, in Hans Weingartners Wohnmobiltrip „303„, eine Hommage an die Richard Linklater-„Before…“-Reihe, schwebte über den Köpfen der Protagonisten die Frage nach dem Sinn des Lebens und/oder der wahren Liebe. Bei Schipper wären wir wieder bei den Freiheiten, die inhaltlich wie formal vermeintliche sind. Da hätte es der Randfiguren vom übertrieben aufspielenden Moritz Bleibtreu als Alt-Hippie oder der um das Wohnmobil besorgten Vaters gar nicht bedurft, um die am Ende nicht immer rhythmische Geschichte im Gleichklang zu halten.
Der junge Zeigeist
Schipper findet seine kraftvollen Bilder in den intimen Momenten. Zum Beispiel als beide Hauptdarsteller eines Abends am Tisch sich gegenübersitzen und Worte wie „Kindersoldat„, „Dartspieler„, „Jesus“ oder „Rassist“ aufsagen. Oder während einer Umarmung, die „unbedingt mindestens 20 Sekunden lang sein muss, weil erst dann Endorphine ausgeschüttet werden.“ Schippers Filme sind, wie auch „Roads“ dem direkten (jungen) Zeitgeist entsprungen und fühlen sich deshalb so greifbar an. Ehe sich nach dem Abspann die wundervolle Retrospektive als kostbare Beobachtung eines ganz bestimmten Moments behauptet, wird jedem die Wichtigkeit des Films bewusst. Und vieles wirkt noch lange nach. Nicht verpassen!